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derselben. Zudessen hat eine auf diese Art gewonnene Kenntnis etwas sehr Manzelhaftes und dabei Bedenkliches, ungefähr wie es mangelhaft steht um die Kenntnis eines Landes und Volkes, sobald man dieselbe aus einem statistischen Handbuche schöpft, ohne der Geschichte der Nation nachzufragen, die doch erst man. ches Statistische und Vorhandene erklärt. Allerdings ist jedes ächte Kunstwerk, also auch jede wahre Dichtung, ein in sich abgeschlossenes Ganzes, und unterscheidet sich ja eben dadurch von der bloß wissenschaftlichen Untersuchung, die nie abgeschlossen erscheinen kann. Allein der Dichter und sein Werk ist doch auch ein Gewordenes, und beide lassen sich nur dann ganz verstehen und genießen, wenn man sie als Produkte ihrer Zeit betrachtet. Einen rein ästhetischen Maßstab an alle Werke zu legen, ist an sich erlaubt; allein sehr oft wird es zur Ungerechtigkeit und in sofern zur Unnatürlichkeit, da alle einzelne Dichtungen in einer bestimmten Zeit, unter einem bestimmten Volk, viele unter ganz eigenthümlichen Verhältnissen und mit klargedachten Zwecken ents standen sind. Eine unbefangene Würdigung und Schäßung von Geisteswerken ist also nur dann möglich, wenn man die Zeit und die Umstände kennt, in welcher die Schöpfer derselben leb. ten; ja bei manchen ist sogar eine genauere Kenntnis des ein. zelnen Dichters und seiner besondern Entwickelungsgeschichte zum genauern Verständnis wünschbar.

Es giebt aber eine geschichtliche Darstellung der Literatur, die nicht bloß die Entwickelung derselben verfolgt, sondern auch die Beziehungen nachweist, welche einzelne Erscheinungen und Perioden zu unserer Zeit und zu unserer jezigen Bildung haben; eine Darstellung, die also die Literatur von vorn herein als etwas Bestehendes und noch Vorhandenes ansieht, nicht bloß als etwas Dagewesenes und nur für die Kenntnis vergangener Zustände Wichtiges; die mithin nicht blos ermittelt, was der einzelne Dichter seiner Zeit war und sein wollte, fondern auch, was er heutiges Tages für uns ist und sein kann oder soll. Der Stoff der Literargeschichte ist in der That ein ganz anderer, als der der politischen Geschichte. Die äußern Begebenheiten und Thas ten, sowie die Culturzustände eines Volkes, sind wirklich ganz und gar vergangen, und der Geschichtschreiber muß uns erst

mit ihnen bekannnt machen und sie wieder in unserm Andenken zurückrufen. Die Thaten der Dichter hingegen sind zwar vollendet, aber feineswegs vergangen, sobald die Dich tungen uns vorliegen, und der Geschichtschreiber braucht sie nicht erst in unser Gedächtnis zurückzurufen, sondern bloß ihre Ent. stehungsart zu erklären, und dabei liegt es ganz nahe, thre Bedeutung für uns nachzuweisen. Bei einer solchen Behandlung des Stoffes kann man füglich das zwar Historisch-Charakteristische, für unsere Zeit und unsere Bildung hingegen Werthlose, nur flüchtig berühren oder ganz beiseit lassen, dagegen dichterische Schöpfungen, die einen bleibenden Werth haben, desto mehr hervorheben, auch wenn sie für den Charakter ihrer Zeitbildung gar nicht so bedeutend wären.

Auch ich wähle diesen Gang bei meiner Darstellung und werde mich überhaupt vom Wege der Kritik nie ganz entfernen. Ich gebe zuerst Umrisse zur Entwickelung der Nationalliteratur im Ganzen, und verfolge dann in einer zweiten Abtheilung die einzelnen Gattungen der Literatur, um zusammenzustellen, was deutscher Geist und deutsches Talent in jeder geleistet und her. vorgebracht hat. Die erste Abtheilung hat also die Aufgabe, den Geist und Charakter der verschiedenen Perioden und die be deutendsten Männer zu schildern, an welche sich die Entwickelung der Poesie lehnt; die zweite Abtheilung hat es mit einzelnen Werken und Hervorbringungen zu thun, und beide Abtheilungen ergänzen sich mithin gegenseitig.

Strenggenommen hätte ich bloß Rechenschaft zu geben über die neuhochdeutsche Literatur, d. h. über diejenige, deren Träger die jest geltende deutsche Sprache ist, und da diese erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts zu völligem Bewußtseyn und einer würdigen Gestalt gelangte, könnte ich füglich bei diesem Wendepunkte im geistigen Leben der Nation (also mit d. J. 1740) beginnen. Allein weil ich überall historische Entwickelung mit ästhetischer Würdigung zu verbinden trachte, kann ich nicht um hin, sowohl die allgemeine geschichtliche Uebersicht, als die syste. matische Zusammenstellung der einzelnen Formen bis auf die frühesten Zustände zurückzuführen, und wenigstens kurze Umrisse von dem Charakter der ältern Poesie und Literatur zu geben, ein

Versuch, der um so nothwendiger scheint, da die Kenntnis dieser åltern Zustände nur in eigentlich gelehrter Weise für die Fach. verwandten und in Handbüchern für gelehrte Schulen gegeben ist, die neuern Bearbeitungen für einen größern Kreis von Lesern hingegen von sehr Unberufenen ausgegangen sind. Ein Eins gehen ins Einzelne wäre für meinen Zweck und selbst für meine Kräfte nicht möglich; mein Hauptaugenmerk kann nur darauf gehen, eine richtige Ansicht von der Poesie der deutschen Vorzeit zu vermitteln und eine Menge Irrthümer, die sich wie böse Krankheiten vererbt haben, zu berichtigen *).

*) Welche Frrthümer z. B. in dem sonst guten Buche der Mis Robinson (Talvi): Versuch einer geschichtlichen Charakteristik der Volkslieder germanischer Nationen, Leipz. 1840. Die Verfasserin ift überall zu Hause, nur in der Kenntnis der frühern deutschen Literatur bedeutend zurück.

Erfte Abtheilung.

Geschichtliche Uebersicht

der

deutschen Nationalliteratur.

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