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zeitlichen Interessen des Volkes stimmen, daß in einer Epoche die epische Form, in einer andern die lyrische, in einer dritten die dramatische vorherrscht? Offenbar geht diese Hinneigung zu bestimmten Formen von den Männern aus, die vorzugsweise die eine Gattung ausbildeten und sie besonders liebten. Neben der allgemeinen Geschichte der Poesie läuft ganz bestimmt noch eine Geschichte der einzelnen Gattungen, die oft ganz unabhängig ist von der Entwicklung des Geistes der Literatur überhaupt. Was rum geht eine Schule vorzugsweise auf das Charakteristische, cine andere auf das Phantastische, eine dritte auf das Gemüthliche aus? Warum nimmt die eine Zeit ihren Stoff gern aus der unmittelbaren Gegenwart, eine andere aus der Vergangenheit, eine dritte rein aus der Phantasie? Warum herrscht jeßt eine reflektierende Richtung, jeht eine symbolische Darstellung, jezt wieder eine rein objektive? Alle diese Fragen lassen sich nicht aus dem Geiste der Zeit, noch weniger aus den Schicksalen der Nation beantworten; jene Er. scheinungen beruhen auf theoretischen Ansichten und auf dem Vorgange bedeutender Muster. Gerade auf diese Unterschiede, dünkt mich, hat die Geschichte der Literatur ihr erstes Augenmerk zu richten, weil sie klar zu Tage liegen, und für die Beurtheilung der verschiedenen Zeiten und Schulen bedeutende Winke geben.

Eine rein geschichtliche Darstellung der Literatur hat es mit dem Werden und dem jedesmaligen Charakter der verschiedenen Perioden zu thun, wird also das vom Standpunkte der Kritik aus Unbedeutende, Schlechte, Verwerfliche eben so gut beachten müssen, als das Bedeutende, Wahrhaftschöne und Unvergängliche. Anders verfährt die Darstellung, welche die Literatur als etwas Borhandenes ansieht; sie stellt sich auf einen ästhetischen Standpunkt und hebt aus der Masse das Bedeutende, Schöne und Vortreffliche hervor. Geht sie systematisch zuwege, so betrachtet sie alles nach bestimmten Claffen und Formen, und sucht die Frage zu beantworten: was die Nationalliteratur in jeder dieser Formen geleistet und hervorgebracht habe. Für die Mehrzahl derer, die in diesem Fache des Wissens Belehrung suchen, ist diese Art der Darstellung die bequemste, da sie nicht den Gang der Literatur kennen lernen wollen, sondern das Werthvolle

derselben. Indessen hat eine auf diese Art gewonnene Kenntnis etwas sehr Mangelhaftes und dabei Bedenkliches, ungefähr wie es mangelhaft steht um die Kenntnis eines Landes und Volkes, sobald man dieselbe aus einem statistischen Handbuche schöpft, ohne der Geschichte der Nation nachzufragen, die doch erst manches Statistische und Vorhandene erklärt. Allerdings ist jedes ächte Kunstwerk, also auch jede wahre Dichtung, ein in sich abgeschlossenes Ganzes, und unterscheidet sich ja eben dadurch von der bloß wissenschaftlichen Untersuchung, die nie abgeschlossen erscheinen kann. Allein der Dichter und sein Werk ist doch auch ein Gewordenes, und beide lassen sich nur dann ganz verstehen und genießen, wenn man sie als Produkte ihrer Zeit betrachtet. Einen rein ästhetischen Maßstab an alle Werke zu legen, ist an fich erlaubt; allein sehr oft wird es zur Ungerechtigkeit und infofern zur Unnatürlichkeit, da alle einzelne Dichtungen in einer bestimmten Zeit, unter einem bestimmten Volk, viele unter ganz eigenthümlichen Verhältnissen und mit klargedachten Zwecken entstanden sind. Eine unbefangene Würdigung und Schäßung ›von Geisteswerken ist also nur dann möglich, wenn man die Zeit und die Umstände kennt, in welcher die Schöpfer derselben leb ten; ja bei manchen ist sogar eine genauere Kenntnis des einzelnen Dichters und seiner besondern Entwickelungsgeschichte zum genauern Verständnis wünschbar.

Es giebt aber eine geschichtliche Darstellung der Literatur, die nicht bloß die Entwickelung derselben verfolgt, sondern auch die Beziehungen nachweist, welche einzelne Erscheinungen und Perioden zu unserer Zeit und zu unserer jezigen Bildung haben; eine Darstellung, die also die Literatur von vorn herein als etwas Bestehendes und noch Vorhandenes ansieht, nicht bloß als etwas Dagewesenes und nur für die Kenntnis vergangener Zustände Wichtiges; die mithin nicht blos ermittelt, was der einzelne Dichter seiner Zeit war und sein wollte, sondern auch, was er heutiges Tages für uns ist und sein kann oder soll. Der Stoff der Literargeschichte ist in der That ein ganz anderer, als der der politischen Geschichte. Die äußern Begebenheiten und Thaten, sowie die Culturzustände eines Volkes, sind wirklich ganz und gar vergangen, und der Geschichtschreiber muß uns erst

mit ihnen bekannnt machen und sie wieder in unserm Andenken zurückrufen. Die Thaten der Dichter hingegen sind zwar vollendet, aber keineswegs vergangen, sobald die Dich. tungen uns vorliegen, und der Geschichtschreiber braucht sie nicht erst in unser Gedächtnis zurückzurufen, sondern bloß ihre Ent. stehungsart zu erklären, und dabei liegt es ganz nahe, ihre Bedeutung für uns nachzuweisen. Bei einer solchen Behandlung des Stoffes kann man füglich das zwar Historisch-Charakteristische, für unsere Zeit und unsere Bildung hingegen Werthlose, nur flüchtig berühren oder ganz beiseit lassen, dagegen dichterische Schöpfungen, die einen bleibenden Werth haben, desto mehr hervorheben, auch wenn sie für den Charakter ihrer Zeitbildung gar nicht so bedeutend wären.

Auch ich wähle diesen Gang bei meiner Darstellung und werde mich überhaupt vom Wege der Kritik nie ganz entfernen. Ich gebe zuerst Umrisse zur Entwickelung der Nationalliteratur im Ganzen, und verfolge dann in einer zweiten Abtheilung die einzelnen Gattungen der Literatur, um zusammenzustellen, was deutscher Geist und deutsches Talent in jeder geleistet und her. vorgebracht hat. Die erste Abtheilung hat also die Aufgabe, den Geist und Charakter der verschiedenen Perioden und die be deutendsten Männer zu schildern, an welche sich die Entwickelung der Poesie lehnt; die zweite Abtheilung hat es mit einzelnen Werken und Hervorbringungen zu thun, und beide Abtheilungen ergänzen sich mithin gegenseitig.

Strenggenommen hätte ich bloß Rechenschaft zu geben über die neuhochdeutsche Literatur, d. h. über diejenige, deren Träger die jest geltende deutsche Sprache ist, und da diese erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts zu völligem Bewußtseyn und einer würdigen Gestalt gelangte, könnte ich füglich bei diesem Wendepunkte im geistigen Leben der Nation (also mit d. J. 1740) beginnen. Allein weil ich überall historische Entwickelung mit ästhetischer Würdigung zu verbinden trachte, kann ich nicht umhin, sowohl die allgemeine geschichtliche Uebersicht, als die syste matische Zusammenstellung der einzelnen Formen bis auf die frühesten Zustände zurückzuführen, und wenigstens kurze Umrisse von dem Charakter der ältern Poesie und Literatur zu geben, ein

Bersuch, der um so nothwendiger scheint, da die Kenntnis dieser ältern Zustände nur in eigentlich gelehrter Weise für die Fach. verwandten und in Handbüchern für gelehrte Schulen gegeben ist, die neuern Bearbeitungen für einen größern Kreis von Lesern hingegen von sehr Unberufenen ausgegangen sind. Ein Eingehen ins Einzelne wäre für meinen Zweck und selbst für meine Kräfte nicht möglich; mein Hauptaugenmerk kann nur darauf gehen, eine richtige Ansicht von der Poesie der deutschen Vorzeit zu vermitteln und eine Menge Irrthümer, die sich wie böse Krankheiten vererbt haben, zu berichtigen *).

*) Welche Irrthümer z. B. in dem sonst guten Buche der Mis Robinfon (Talvi): Versuch einer geschichtlichen Charakteristik der Volkslieder germanischer Nationen, Leipz. 1840. Die Verfasserin ist überall zu Hause, nur in der Kenntnis der frühern deutschen Literatur bedeutend zurück.

Erfte Abtheilung.

Geschichtliche Uebersicht

der

deutschen Nationalliteratur.

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